TSV Bayer 04 Leichtathletik Historie
Von den Anfängen bis zu Armin Harys EM-Gold
Der TSV Bayer 04 Leverkusen ist einer der mitgliederstärksten Sportvereine Nordrhein-Westfalens. Gesamtverein und Leichtathletik-Abteilung blicken auf eine ebenso ereignisreiche wie erfolgreiche Historie zurück. Wir stöbern im Archiv, schwelgen in Erinnerungen – und erzählen die Geschichten der Bahnbrecher mit dem Kreuz auf der Brust.
Turn- und Spielverein der Farbenfabriken vormals Friedrich Bayer & Co. – so der ursprüngliche Name. Mit der Gründung im Jahre 1904 wurde das Bayer-Kreuz als Warenzeichen eingetragen. Doch bis die Leichtathletik-Abteilung ins Leben gerufen wurde, dauerte es noch bis 1926. Die Einweihung des Manforter Stadions erfolgte am 12. Juni 1927. 1929 sorgte der 400-Meter-Läufer Marten für den ersten überregionalen Erfolg. Bei den Meisterschaften des Deutschen Turnerbundes belegte er in 50,6 Sekunden den dritten Platz.
1939 starteten erstmals zwei Leverkusener bei Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften: Willi Lerch in der Männer- und Karl Keim in der „Jungmannen“-Klasse. 1941 lief der spätere Marathonmeister Hans Vollbach 5.000 Meter in 16:29,6 Minuten. 1949 wurde Marga Steinbüchel Deutsche Jugendmeisterin über 100 Meter. 1952 gelang der Marathon-Mannschaft der erste Deutsche Meistertitel bei den Männern. Zum Team gehörten Dieter Engelhardt, Hans Vollbach und Willy Wange.
Dieter Engelhardt erster Olympia-Teilnehmer
Leistungsträger Dieter Engelhardt wurde in der Einzelwertung Deutscher Vize-Meister und avancierte in Helsinki zum ersten Olympia-Teilnehmer des heutigen TSV Bayer 04. Er belegte Platz 30. Seine Bestzeit: 2:33:44 Stunden. 1953 wurde Hans Vollbach zum ersten Mal Deutscher Marathonmeister. Ein Jahr später verteidigte er den Titel vor heimischer Kulisse erfolgreich und legte den Grundstein für den Mannschaftserfolg, an dem auch Willy Wange und Günther Rodowski beteiligt waren.
Am 1. Juli 1954 trat Sportlehrer Bert Sumser seinen Dienst in Leverkusen an und setzte den rasanten Aufschwung der Leichtathleten beim SV Bayer 04 in Gang. Absoluter Top-Athlet: Ausnahmesprinter Armin Hary. Er begann beim SV Saar 05 Saarbrücken und beim 1. FC Saarbrücken – und wurde immerhin saarländischer Jugendmeister im Zehnkampf. Als er 1957 bei den Deutschen Juniorenmeisterschaften in Oberhausen über 100 Meter in 10,4 Sekunden gewann, holte ihn Bert Sumser nach Leverkusen.
Heute legendär: Bert Sumser
Der internationale Durchbruch erfolgte bei den Europameisterschaften 1958 in Stockholm. Dort gewann Armin Hary zwei Mal Gold – über 100 Meter und mit der 4x100-Meter-Staffel. Bei der Rückkehr herrschte der buchstäbliche „große Bahnhof“. Rathaus und Bayer-Kaufhaus waren geflaggt. Klub-Chef Fritz Jacobi hielt die Laudatio und überreichte Armin Hary eine Filmkamera und einen Projektor.
Kurz danach wechselte der Europameister den Verein. Der FSV Frankfurt. hatte ein Leichtathletikzentrum aufgebaut und verpflichtete gleich vier Top-Stars: neben ihm Mittelstreckler Paul Schmidt, Langstreckler Ludwig Müller und Kugelstoßer Hermann Lingnau. Als Weltrekordler war Armin Hary der erste Mensch, der 100 Meter in 10,0 Sekunden lief. Bei den Olympischen Spielen in Rom erkämpfte er 1960 die Goldmedaille - Erfolge, die eng mit den Namen Bert Sumser verbunden bleiben.
Von Willi Holdorfs Olympia-Gold bis zu den ersten Weltrekorden
Zehnkämpfer Willi Holdorf, der im Februar sein 80. Lebensjahr vollendet hat, avancierte 1964 in Tokio zum ersten Olympiasieger des TSV Bayer 04. Auch auf andere Weise bewies der Diplom-Sportlehrer Vielseitigkeit: Als Bobfahrer holte er EM-Silber, später trainierte er die Bundesliga-Fußballer von Fortuna Köln. Stabhochspringer Claus Schiprowski führte er 1968 als Trainer zu Olympia-Silber, Hürdenläufer Günther Nickel in die Weltspitze. Hier mehr zu Willi Holdorf..
In der gesamtdeutschen Olympia-Auswahl stand in Tokio auch Wolfgang Reinhardt. Wenige Tage vor Willi Holdorfs Coup sicherte der Stabhochspringer den Leverkusener Leichtathleten die erste olympische Medaille überhaupt. Er überquerte 5,05 Meter und erkämpfte damit Silber. Wolfgang Reinhardt gehörte zunächst der Turnerschaft Göppingen an. Sein erster Trainer war Jörg Bernlöhr. Als er 1961 ein Studium an der Sporthochschule Köln aufnahm, erfolgte der Wechsel zu Bayer 04, wo er bei Bert Sumser trainierte. Von 1963 bis 1968 war Wolfgang Reinhardt der tonangebende deutsche Stabhochspringer. Er verstarb 2011.
Medaillenschmied Gerd Osenberg
1965 nahm Diplom-Sportlehrer Gerd Osenberg seine Trainertätigkeit in Leverkusen auf. Der heute 83-Jährige formte den TuS 04 zu einer regelrechten Leichtathletik-Hochburg. Er hievte zahllose Talente auf Weltklasse-Niveau – mit der ihm eigenen Begeisterungsfähigkeit, seinem immensen Ideenreichtum und psychologischem Einfühlungsvermögen. Insgesamt sammelten seine Schützlinge elf Olympiamedaillen – davon vier goldene.
„Gerd Osenberg konnte jede leichtathletische Disziplin trainieren und Sportler in die Weltspitze bringen. Hätte man ihn als Trainer im Pferderennsport eingesetzt, wäre er wohl Preisgeld-Millionär geworden“, sagte der damalige Abteilungsleiter Joachim Strauss Ende November 2015 anlässlich der 50-jährigen Vereinszugehörigkeit des Meistertrainers. 2002 ging Gerd Osenberg in Rente, stellte sich aber weiterhin als Leichtathletik-Übungsleiter zur Verfügung.
Weltrekorde durch Liesel Westermann und Kurt Bendlin
1967 verzeichnete Leverkusen die zwei ersten Leichtathletik-Weltrekorde. Liesel Westermann übertraf in São Paulo mit 61,26 Metern als erste Diskuswerferin der Welt die 60-Meter-Marke - am 5. November auf einer Südamerikareise zum Abschluss der Saison. Schon ein Jahr vorher gab es zwischen ihr und Gerd Osenberg erste schriftliche Kontakte. Es wurde das Arrangement getroffen, dass die Athletin weiterhin für Hannover 96 starten, aber sich der Trainingsgruppe in Leverkusen anschließen und an der Sporthochschule Köln ein Studium beginnen würde.
Zehnkämpfer Kurt Bendlin stellte Pfingsten 1967 einen Zehnkampf-Weltrekord auf - bei 38 Grad im Schatten. In Heidelberg sammelte der damals 24-Jährige 8.319 Punkte. Er verausgabte sich im abschließenden 1.500-Meter-Lauf völlig, brach im Ziel vor Erschöpfung zusammen. Kurt Bendlin unterbrach die Vorherrschaft der US-Zehnkämpfer. Zunächst Bauarbeiter und später Polizist, hatte er mit einem Bayer-Stipendium begonnen in Köln Sport zu studieren.
Nach Operationen an beiden Knien und forciertem Krafttraining drängte der Zehnkämpfer auf baldige Wettkämpfe. Bert Sumser konnte ihn nur bremsen, indem er einen Weltrekordversuch versprach und verabredete mit Bundestrainer Friedel Schirmer den Termin im Mai - vor allen wichtigen Wettkämpfen der Saison. Fast wäre die Sache geplatzt: Weil ihm fünf Tage vor dem Termin eine Hantel abrutschte, musste Kurt Bendlin zwei Tage das Bett hüten. Der sportbegeisterte Sohn eines Fabrikanten aus Casablanca, der ihn finanziell unterstützte, wollte ihn nach Heidelberg fahren. Doch unterwegs ging das Auto kaputt. Kurt Bendlin fuhr mit dem Zug weiter.
Vom dreifachen Olympia-Silber bis zum EM-Boykott
Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico-City holten Leverkusener Leichtathleten drei Silbermedaillen. Für Diskuswerferin Liesel Westermann zerrann der Traum vom Olympiasieg. Nur die rumänische Olympiasiegerin das Glück hatte, ihren ersten Versuch noch im Trockenen zu absolvieren. Alle anderen Athletinnen hatten mit heftigem Regen zu kämpfen. Noch drei Mal steigerte die Athletin von Gerd Osenberg ihren eigenen Weltrekord: 1968 auf 62,54 sowie 1969 zunächst auf 62,70 und dann später auf 63,96 Meter. Hier mehr zu Liesel Westermann.
Claus Schiprowski stellte als Stabhochsprung-Zweiter mit 5,40 Metern einen Europarekord auf – höhengleich mit Olympiasieger Bob Seagren (USA) und Bronzemedaillengewinner Wolfgang Nordwig (SC Motor Jena). Zunächst hatte Claus Schiprowski im Hürdensprint als großer Hoffnungsträger gegolten. Im Stabhochsprung steigerte er sich innerhalb von zwei Jahren von 3,70 Meter auf 4,10 Meter. Dann folgten 4,60 Meter, was ihm 1964 DM-Bronze einbrachte. Das Mexiko-Ticket sicherte sich Claus Schiprowski mit der Steigerung des deutschen Rekordes auf 5,13 Meter. und Gerhard Hennige (4x400-Meter-Staffel).
„Beinahe-Weltrekordler“
Gerhard Hennige sackte in Mexico-City gleich zwei Medaillen ein. Über 400 Meter Hürden wurde er Zweiter - in 49,02 Sekunden, dem heute ältesten Vereinsrekord des TSV Bayer 04 Leverkusen. Der Schützling von Bert Sumser war der erste deutsche Langhürdler, der eine Olympia-Medaille erkämpfte. Notiz am Rande: Aus dem Publikum wurde ihm nach dem Zieleinlauf eine Dose Bier zugeworfen.
Im Halbfinale war der Leverkusener mit 49,1 Sekunden Weltrekord gelaufen – im Prinzip jedenfalls. Doch laut Reglement musste eine Weltrekordzeit 24 Stunden bestehen, um in die Rekordlisten einzugehen. In seinem Fall waren es nur 18 Stunden, denn im Finale wurde die Zeit durch den Briten David Hemery auf 48,1 Sekunden verbessert. Zusammen mit Helmar Müller, Manfred Kinder und Martin Jellinghaus wurde Gerhard Hennige – an Position zwei laufend - in der 4x400-Meter-Staffel Dritter. Das Quartett verbesserte den Europarekord auf 3:00,05 Minuten.
EM-Boykott in Athen
Auch bei den Europameisterschaften 1969 gewann Gerhard Hennige mit der Staffel Bronze. Beteiligt waren zudem Horst-Rüdiger Schlöske, Ingo Röper und Martin Jellinghaus. Überaus bemerkenswert: Der Deutsche Leichtathletik-Verband war nur in den Staffel-Wettbewerben am Start. In den Einzelwettbewerben boykottierten die DLV-Athleten die Wettkämpfe in Athen - aus Solidarität zu 1.500-Meter-Läufer Jürgen May, der nach seiner Flucht aus der DDR nicht starten durfte. Laut IAAF-Statuten hatte er die Staatsangehörigkeit gewechselt und unterlag damit einer dreijährigen Startsperre für internationale Meisterschaften.
Nach seinem Abschluss als Diplom-Sportlehrer wurde Gerhard Hennige 1969 hauptamtliche Lehrkraft am Hochschulsportzentrum der heutigen TU Darmstadt. Nebenbei fungierte er sechs Jahre lang dänischer Nationaltrainer und coachte dort unter anderem Hürdenläufer Lars Ingemann Nielsen. Mit dem siebenfachen Automobil-Weltmeister Michael Schumacher feilte er als Personaltrainer an Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer.
Gleich im ersten Versuch zum Olympia-Gold
Hans-Joachim Reske gehörte Anfang der 1960er Jahre zu den weltbesten 400-Meter-Läufern. Bei seinem größten Erfolg, der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel, startete er noch für Saar 05 Saarbrücken. 1962 kam er nach Leverkusen und wurde in Belgrad hinter dem Briten Robbie Brightwell und Manfred Kinder EM-Dritter und zusammen mit Johannes Schmitt, Wilfried Kindermann und Manfred Kinder Staffel-Europameister. 1962 war Hans-Joachim Reske auch Deutscher Meister und rannte in 46,1 Sekunden Bestzeit.
1965 ging der Stern von Heide Rosendahl auf. Die vielseitige Tochter des zweifachen Deutschen Meisters im Diskuswurf Heinz Rosendahl errang schon als Jugendliche Urkunden und Meistertitel. Doch beim TuS 04 Leverkusen reifte das Talent zu einer großen Sportlerin. Mit 18 begann sie in Köln ein Lehramts-Studium und wurde Mitglied der Trainingsgruppe um Gerd Osenberg. Schon im Jahr danach holte sie bei den Europameisterschaften in Budapest im Fünfkampf Silber.
Heide Rosendahl mit zwei Weltrekorden
Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko belegte Heide Rosendahl im Weitsprung den achten Platz. Eine Muskelverletzung verhinderte den Start im Fünfkampf, bei dem sie als Weltjahresbeste und Topfavoritin angetreten wäre. 1969 stellte sie mit 5.155 Punkten einen Fünfkampf-Weltrekord auf. 1970 folgte bei den Studenten-Weltmeisterschaften mit 6,84 Metern der Weltrekord im Weitsprung - ihr internationaler Durchbruch und ihr Aufstieg in die absolute Weltklasse. Bis heute ist die Weite TSV-Vereinsrekord.
1971 erkämpfte Heide Rosendahl bei der EM Gold im Fünfkampf und Bronze im Weitsprung. Dann die Krönung ihrer Karriere: der dreifache Medaillengewinn bei den Olympischen Spielen von München 1972.
Der Weitsprung schien schon nach kurzer Zeit entschieden. Die Weltrekordlerin aus Leverkusen schockte die Konkurrentinnen mit rekordnahen Weiten und schien ungefährdet dem Sieg zuzustreben. Die Tschechin Eva Suranova und die Bulgarin Diana Yorgova kamen allerdings wieder heran. Der Bulgarin gelang ganz zum Schluss ein herrlicher Sprung, nur ein Zentimeter fehlte an den 6,78 Metern von Heide Rosendahl, deren Zittern um ihre Goldmedaille aber dann ein Ende hatte.
„Gold-Heide“ gefeiert wie eine Königin
Das Publikum feierte „Gold-Heide“, wie eine Boulevardzeitung titelte, wie eine Königin. Heidi Schüller, die zweite Leverkusenerin im Feld, übertraf sich selbst und belegte mit 6,51 Metern Platz fünf. Wenige Tage später holte Heide Rosendahl Silber im Fünfkampf. Das Abschneiden in den Einzel-Sprints schien der deutschen 4x100-Meter-Staffel keine Siegchance zu lassen. Und dann verletzte sich auch noch die etatmäßige Startläuferin Elfgard Schittenhelm.
Obwohl die Wechsel mittelmäßig klappten, lag das Quartett bei der letzten Stabübergabe knapp vorn. Der Vorsprung, mit dem Annegret Richter Schlussläuferin Heide Rosendahl auf die Reise schickte, schien zu gering. Doch Renate Stecher, die schnellste Sprinterin der Welt und Schlussläuferin der eigentlich favorisierten DDR-Staffel, versuchte vergeblich, die Leverkusenerin niederzukämpfen. Sie vergrößerte den Vorsprung sogar noch. Zusammen mit Christiane Krause, Ingrid Mickler und Annegret Richter erzielte Heide Rosendahl in 42,81 Sekunden einen neuen Weltrekord.